Königstr. 11
23552 Lübeck
Zu den Bildern von Birgit Jensen:
Thorsten Scheer
So oder anders. Ambivalenz und Kohärenz in den Bildern von Birgit Jensen
Bilderinnerungen setzen nur selten allmählich ein und entfalten sich nicht graduell. Die verblaßten Bilder von Gesichtern unserer Vergangenheit erneuern sich im Fall einer neuerlichen Begegnung in der Regel schlagartig, plötzlich und überraschend.
Wir sehen die Bilder Birgit Jensens als Farbspuren auf einer homogenen Farbfläche, die so angeordnet sind, daß sich eine ungestörte monochrome Fläche der Grundfarbe unterschiedlicher Höhe im oberen Teil der Bilder ergibt. Die Farbspuren weisen eine Verdichtung nach oben hin auf, die sich gemeinsam mit linearen Strukturen, perspektivähnlich fluchtenden Linien, Brücken oder Uferstreifen zum Eindruck eines Landschaftsbildes vervollständigen. Es handelt sich bei den Bildern Jensens um das Genre der Landschaftsmalerei, das hier anhand des Motivs einer nächtlich erleuchteten Stadt in Erinnerung gerufen wird. Die Bilder problematisieren gewissermaßen die Möglichkeit vorikonographischer Beschreibung, indem sie einen Bildsinn eröffnen, der die Vertrautheit mit dem dargestellten Gegenstand voraussetzt und das Bildgedächtnis des Betrachters in Anspruch nimmt.
Verunsicherung über die Bildinformation stellt sich ein, wenn man die Bilder aus der Nähe betrachtet, denn sie inspirieren zwei unterschiedliche und nicht widerspruchslos ineinander überführbare Rezeptionsmodi. Während sich in der Fernsicht aus den genannten Gründen (perspektivähnliche Verflüchtigung und gleichzeitige Häufung von Bildinformationen nach oben, erkennbare Horizontlinie, zentrumspunktgerichtete Flucht der Bildinformationen) der Eindruck eines Landschaftsbildes einstellt, sind in der Nahdistanz lediglich die Bildpunkte zu erkennen, die sich ihrerseits erst durch die eingeschränkte Perzeptionsfähigkeit des Auges gegenseitig zu einem erkennbaren Bild ergänzen. Die Addition der Punkte zu einer zusammenhängenden Agglomeration von Farbe geschieht im Auge des Betrachters. Der gleiche Vorgang ist die Grundlage der auf Farbseparation basierenden Offsetdruckverfahren, die uns ermöglichen aus vier in unterschiedlichen Farben wiedergegebenen Punktrastern ein Bild zu generieren. Wird die Auflösung unseres Auges durch die Projektion der Bildpunkte auf unsere Netzhaut unterschritten, sehen wir auch dort eine homogene Farbfläche, wo eigentlich nicht mehr als rote, gelbe, blaue und schwarze Punkte zu sehen sind.
Der Umgang mit Computern hat die meisten von uns vertraut gemacht mit der Kategorie der Auflösung, mit Pixeln, dpi usw. Wo ehemals unterschieden wurde zwischen scharfen und unscharfen Fotografien, allenfalls zwischen feinkörnigen und grobkörnigen Bildern, hat die digitale Erfassung der Welt eine technische Kategorie hinzugefügt, ohne die eine souveräne Beherrschung von Bildmedien kaum noch denkbar erscheint. Und – neben der Akzentuierung der Auflösung durch das zugrundeliegende Bildraster wird eine zweite Kategorie digitaler Bildverarbeitung von der Künstlerin ins Spiel gebracht: die Reduzierung auf eine begrenzte Anzahl von Farben tilgt alle Zwischentöne, d.h. die analogen Informationen aus den Bildern. Es handelt sich um wenige Farben, die jeweils mittels des Siebdruckverfahrens auf die Leinwand aufgebracht werden. Dies ist die Bedingung für die demonstrative Veranschaulichung des synthetischen Charakters der zur Wahrnehmung angebotenen Bildinformation. Neben dem Hinweis auf ein seiner Substanz nach nicht mehr individuell-handwerkliches Herstellungsverfahren verweist die Reduktion der Wahrnehmungsinformation auf das Notwendige zur Herstellung des Wahrnehmungsprozesses selbst.
Daß die digitale Manipulation unserer Welt (das betrifft nicht nur visuelle, sondern selbstverständlich auch auditive Informationen) einen Grad erreicht hat, der die Zuverlässigkeit und Möglichkeit von Informationen im allgemeinen in Frage stellt, ist ebenso eine
Platitüde wie der obligatorische Hinweis auf Walter Benjamins Studie vom "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" in diesen Zusammenhängen. Jensen ihrerseits nutzt die Auflösung, die zur Täuschung gereicht, aber gar nicht aus, sondern unterschreitet sie erheblich. Sie unterschreitet darüber hinaus sogar die Auflösung des im Herstellungsprozeß verwendeten Verfahrens, des Siebdrucks, der viel höhere Punktfeinheiten erlauben würde als das Raster des gezeigten
Bildes. Insofern setzt sie mit ihren Bildern die Erfahrung mit der digitalen Reproduktion von Bildern voraus.
Wer einmal die Plakatwände in unseren Städten aus der Nähe betrachtet hat, sieht, daß das Ökonomieprinzip die Täuschung unseres Auges bestimmt. Die Auflösung der Bilder ist so bemessen, daß sie beim kalkulierten Betrachtungsabstand durch Passanten und vor allem vorbeifahrende Autos ausreichend ist hinsichtlich der Erzeugung eines fotografischen Bildes auf der Retina des Betrachters. Kommt man dem Bild zu nahe, löst es sich auf in Einzelinformationen.
Die bestehenden Abbildungsverhältnisse zwischen dem Siebdruck und dem digitalen Bild, das er reproduziert, sowie zwischen dem digitalen Bild und dem von ihm abgebildeten Gegenstand geraten in Bewegung und irritieren sich gegenseitig. Die Kausalität der Darstellung wird unterwandert durch die Konfrontation zweier Rezeptionsmodi, die in unterschiedlichen Abständen zum Bild präsent sind und gewußt, nie aber gleichzeitig wahrgenommen werden können. Jensen beansprucht hinsichtlich der Deutung des primären Sujets das Bildgedächtnis des Betrachters. Indem sie darüber hinaus eine Erfahrung mit digitalen Bildinformationen
voraussetzt, regt sie die Reflexion des Verhältnisses beider zueinander an. Dies führt beim Betrachter der Bilder zwangsläufig zur Verunsicherung über das primäre Sujet. Es handelt sich bei diesen Bildern nämlich gerade nicht um Veduten, sondern um Demonstrationsfelder eines technischen Verfahrens und einer Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen von Wahrnehmung, bei denen die Bedeutung des Bildgegenstandes zurücktritt hinter der Reflexion der Täuschung durch das Bild.
Bilderinnerungen setzen nur selten allmählich ein und entfalten sich nicht graduell. … schlagartig, plötzlich und überraschend nehmen wir aus der Ferne die Bilder einer nächtlich erleuchteten Stadt wahr. … schlagartig, plötzlich und überraschend sehen wir aber aus der Nähe betrachtet die Repräsentation eines digitalen Bildes.