Würzburg
Thomas W. Rieger
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Ein Angriff auf die Endgültigkeit des Sehens und ein Leitfaden zur
Desorientierung
"Mich fesselt dabei besonders die sog. "unsichtbare Stadt": die städtische Struktur, die in unseren Nerven, Gefühlen, Kenntnissen steckt. Das Prinzip Stadt und das Prinzip des Dramatischen (der verdichteten Zeit, des suspense) sind Cousin und Cousine.
Alexander Kluge, Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit, Drehbuch, 6 (1).
Der Katalog der Formen ist endlos: Solange nicht jede Form ihre Stadt gefunden hat, werden immerfort neue Städte entstehen. Wo die Formen ihre Variationen erschöpfen und sich auflösen, setzt das Ende der Städte ein. Auf den letzten Karten des Atlas verschwammen Raster ohne Anfang und Ende, Städte mit der Form von Los Angeles, Kyoto-Osaka, formlos.
Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, IX (2).
Die Architekten Fred Koetter und Colin Rowe untersuchen in ihrer poetisch-visionären Studie „Collage City“ die räumliche und zeitliche Wahrnehmbarkeit des Urbanen und fokussieren dabei den Gedanken einer Erinnerbarkeit und Vorausschau von Texturen. Als „Theater der Erinnerung“ und „Theater der Vorhersage“ zugleich evoziere die zukünftige Stadt bei ihren Betrachtern und Bewohnern sowohl ein neues Verständnis als auch eine andersartige Haltung zum Raum-Zeit-Gefüge der urbanen Agglomeration. Man erinnert Constant und die Psychogeographie der Situationistischen Internationale, aber auch Rem Koolhaas „Stadt ohne Eigenschaften“ oder Robert Venturis „Learning from Las Vegas“ als Meilensteine im Diskurs über Wahrnehmungserfahrungen der komplizierten, sich einer kohärenten, visuellen Analyse eher verschließenden Strukturen des Städtischen. Die Nachteile einer, wie auch immer gearteten „Identität“ und die möglichen Vorteile einer „Geschichtslosigkeit“, wie sie Durs Grünbein in seinem Essay über den dystopisch-artifiziellen „Nicht-Ort“ Los Angeles („Die Hauptstadt des Vergessens“) artikulierte, untersucht insbesondere Koolhaas, der grundsätzlicher noch die Frage nach einer Ableitbarkeit von Identität aus sichtbaren Strukturen überhaupt aufwirft.
Mit einer Gedächtnisleistung konfrontieren die Arbeiten von Birgit Jensen den Betrachter. Die architektonisch-urbanen graphisch reduzierten Versatzstücke lassen sich je nach Vorwissen des Betrachters zu städtischen Ensembles ergänzen: Los Angeles, Berlin, Las Vegas. Bei näherer Betrachtung allerdings wird der Betrachter Leerstellen, aber auch Dopplungen gewahr: einige Architektur-Motive tauchen mehrmals innerhalb des Bildes auf, wiederholen den Architektur-Ausschnitt in unterschiedlichen Größen. Und mehr noch beschreiben die quadratischen, rasterartigen Farbpunkte – in letzter Zeit immer weiter auf eine Palette von Schwarz, Weiß und mit Grau gemischten Farbwerten eingegrenzt – tatsächlich keine Architekturelemente, sondern Lichtpunkte: beleuchtete Fenster, Lichtwerbung, Zeilen von Straßenbeleuchtungen, angestrahlte Architekturen. Die Farben entsprechen nicht dem Spektrum der dargestellten „Realität“, sondern finden sich auf Formeln transformiert. Die Perspektiven sind scheinbar Luftbildern entnommen, suggerieren zumindest einen oder mehrere höher gelegene Betrachterstandpunkte. Eine eindeutige Perspektivierung im Sinne eines birds-eye-view lässt sich nicht ausmachen, vielmehr werden mehrere, parallel in das Bild integrierte Raumsituationen dem Auge des Betrachters angeboten, das bereitwillig die optisch defizitäre Situation zu einem sinnvollen Ganzen zu destillieren sucht. Eine Malerei über Wahrnehmung, aber zugleich auch eine Malerei über Malerei.
Malerei über Malerei insofern, als Birgit Jensen dem künstlerischen Diskurs über Indifferenz, Abstraktion und Gestaltlosigkeit weitere Komponenten und Dimensionen hinzufügt: die Arbeit mit dem fotografischen Bild als Ausgangsmaterial der Malerei und der technischen Zwischenstufe eines Transformationsprozesses (dem rasterartigen Auftrag der Farben) innerhalb der Werkgenese, die Darstellung von Licht mittels einer extrem reduzierten Formel und das Spiel mit den optischen Effekten dieses Umwandlungs- und Herstellungsprozesses (Textur, Raster, Moiré). Eine räumliche Differenzierung der Gegenstände, Architekturen oder Lichtpunkte erfolgt allein über kleinteilige Positiv-Negativ-Entscheidungen innerhalb eines von der Künstlerin „bespielten“, eher imaginären Musters. Die Malerei von Birgit Jensen ist zugleich ein technisch-perfektes Wahrnehmungsmodell, in der atmosphärische Räume mittels minimalistischer, eigenwilliger Palette und formaler Perfektion im Auftrag des Malmaterials verdichtet werden. In gewisser Weise darf man, den Entstehungsprozess der Arbeiten betreffend, von einer kreativen „Vergewaltigung“ der tools sprechen: von der analogen oder digitalen Fotografie in der Auflösung des Computerbilds bis zum Siebdruck als Handwerk erfährt das Ausgangsmaterial verschiedene „Beugungen“ und Umdeutungen. Eigentlich als Medium zur Vervielfältigung konzipiert, individualisiert Birgit Jensen die Rasterpunkte des Druckbildes malerisch und im Zuge eines reversiv zu nennenden Vorgehens zu einem einzigen homogenen Bild. Im Vokabular der graphischen Techniken würde man von „Zuständen“ sprechen. In der Zusammenschau dieser Praktiken möchte ich von einer konzeptuellen Malerei sprechen. Der in der modernen Architekturtheorie geführten Diskussion um die Wahrnehmbarkeit des Urbanen, in der weniger das einzelne Gebäude oder die Stadt selbst Gegenstand ist, sondern vielmehr Fragen der Perzeption, der Betrachtersituierung, der Kongruenz oder Divergenz von Strukturen oder Texturen, ließe sich der künstlerisch-kunsttheoretische Diskurs, in dem die Arbeiten von Birgit Jensen zu verorten sind, durchaus parallelisieren.
Jenseits aller technischen und kunsttheoretischen Diskurse bliebe freilich die Ebene des Poetischen in den Bildern von Birgit Jensen zu verhandeln. Dabei scheinen sich die mit umfangreicherer Palette gefertigten, früheren Arbeiten (etwa die der LA-Serie oder die der BFA-Serie mit einem Blick auf das nächtliche Berlin) einem Dialog wesentlich einfacher zu öffnen, als die in harschem Schwarz-Weiß-Kontrast komponierten Bilder (z. B. LVK I und ZVA I). Die bekannten oder erinnerten urbanen Raster des nächtlichen Los Angeles in den Bildern von Birgit Jensen, die eine klare, für den Betrachter einfach aufzulösende Struktur, das gridiron pattern, abbilden oder die beleuchteten Straßenfluchten Berlins, die sich problemlos zu einem Sinngefüge „Stadt“ zusammenlesen lassen, mögen als Beispiel für die perfekte, mit einfachsten Mitteln erreichte Illusion von Raumtiefe dienen. Als Negativ eines Nacht-Bildes blockieren die neuen Arbeiten von Birgit Jensen (LVK I und LVK II, beide 2005) geradezu das „klassische“ Evozieren von bekannten Betrachtersituationen. Die Erinnerungen an die Kamerafahrten von Ridley Scott oder Steven Spielberg mögen sich nicht einstellen. Die nächtlichen Streifzüge des Dichters Durs Grünbein durch amerikanische Städte als „Frontalangriff auf das Gedächtnis“ bieten sich wohl eher nicht als poetisch-visuelle Synapsen an. Der Umkehrfilm-Effekt hat den Betrachter scheinbar nicht nur aller optisch-logischen Gewissheiten beraubt, sondern verhindert zudem noch den Zugang zu einer visuellen Datenbank, die gespeist aus einem Bildreservoir dem Betrachter zumeist nur bereits Bekanntes und Verstandenes reproduziert und uns gleichzeitig über die mediale Vermittlung nicht nur der Idee des Städtischen nachdenken lässt. Sehen wir, was wir sehen?
(1) Alexander Kluge, Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit,
Drehbuch, Frankfurt am Main (1987).
(2) Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, München (1977)
(3) Colin Rowe und Fred Koetter, Collage City, Basel (1984); Durs
Grünbein, "Aus der Hauptstadt des Vergessens. Aufzeichnungen aus
einem Solarium", in: FAZ, 7.3.1998; Rem Koolhaas, "Die Stadt ohne
Eigenschaften", in: ARCH+ 132 (1996).
Aus: Katalog Heimspiel, Hrsg. Museum im
Kulturspeicher Würzburg, 2005
Beteiligte Künstler und Künstlerinnen: Renate Anger, Burkard Blümlein, Helga Franke, Philipp Hennevogl, Karl-Heinz Hornung, Birgit Jensen, Katja Klussmann, Gertrude Elvira Lantenhammer, Museum für Moderne Kunst München Niederlassung Würzburg, Valentin Schwab, Peter Stein, Anna Tretter, herman de vries, Wolf-Dietrich Weissbach