Iserlohn
Beim Betrachten eines Bildes von Birgit Jensen entsteht der Wunsch, das Gemälde als Abbild eines Fotos zu entschlüsseln. Auf den ersten Blick scheint das Thema eine bekannte Situation zu sein. Doch diese hat die Künstlerin nie gesehen. Sie hat sie medial durchdrungen und durch verschiedene Transformationen digital manipuliert. Es ist ein bisschen wie das Kinderspiel „Stille Post“ - und wirft das Problem der Wahrhaftigkeit des Kunstmachens auf.
In vielen ihrer Arbeiten ist das konstituierende Element eine Landschaft. Diese erfährt während des Arbeitsprozesses eine Reihe von Brechungen und Modusänderungen. So entsteht einer virtueller Ort, der sich weit vom Ursprungsmotiv entfernt. Birgit Jensen beantwortet die Frage, was Landschaftsmalerei unter heutigen Bedingungen sein kann, indem sie sich der an den zeitgenössischen Medien geschulten Wahrnehmung bedient. Ihre Bilder sind keine Landschaftsdarstellungen im klassischen Sinne, sondern deren Konstruktion und zeitgemäße Reflexion. Mit scheinbar figurativen Bildmotiven befragt sie die Malerei unter Wahrung ihrer eigenen Wirklichkeit danach, inwiefern sie relevante Inhalte transportieren kann und welche Strategien zur Auffrischung derselben sich als tauglich erweisen (vgl. Dirk Steimann, in: „Landschafts-Paraphrasen“, 2005).
Für Birgit Jensen ist die Stadt bzw. ein Kultur- oder Naturdenkmal nicht nur ein Verweis auf die gesehene Wirklichkeit, sondern eine Kategorie des Blicks. Das Bildmotiv ist ein Ausschnitt, der dem Betrachter als „gestaltet“ erscheint. In dem Moment, in dem er meint, etwas erkannt zu haben, entzieht sich ebendieses Objekt der Wahrnehmung und der Einordnung in „handhabbare“ Kategorien. In ein und demselben Bild können zwei im Grunde konträre Wahrnehmungszustände offenbar werden: einerseits die Naturerfahrung und andererseits das Abstraktionsvermögen. Das Bild offenbart nicht nur das Abbild einer vertrauten Realität, sondern verwiest gleichzeitig auf die eigene Wahrnehmung und Vorstellungskraft. Der Betrachter wird auf Wahrnehmungsmuster verwiesen wie sie beim Entschlüsseln visueller Codes eine Rolle spielen und erfährt Grundlegendes über die bildschaffende Kraft des Blicks. So bestätigt sich nicht nur das Vermögen der Malerei, illusionistische Räume aufzuschließen, sondern auch, dass sich das „sehende Sehen“ als kognitiver visueller Prozess in diesem Medium reflektieren lässt.
Dirk Steimann 2013