Herderstr. 20
40237 Düsseldorf
Zu den Bildern von Birgit Jensen:
Jens Peter Koerver
Bilder zur Enttäuschung des Sehens
Gleißend, glitzernd hingestreckt liegt die nächtliche Stadt tief unter dem ins Bild, in die Weite schauenden Betrachter. Das Auge ist ein täuschungsbereites, verführbares Wahrnehmungsorgan. Nur zu gerne taucht es in den bis zum allenfalls ahnbaren Horizont reichenden Stadtraum. Spontan macht das Auge vom Angebot der auf einen Fluchtpunkt hin orientierten Bilder Gebrauch, übersetzt das flächige Bild in eine räumliche Wahrnehmung – unwillkürlich sucht der Betrachter seine Position zum Bild zunächst so auszurichten, daß die Illusionierung sich möglichst perfekt entfaltet. Mit der Zeit aber verliert die Mitte ihre Macht, die Mechanik der Perspektive ihren Reiz, verschiebt sich das Augenmerk vom Was des urbanen Raummotivs hin zum Wie der Bilder, weg vom identifizierenden Wiedererkennen hin zu einer in die Bildbetrachtung verwickelten Selbstwahrnehmung des Sehens.
Wer auf eines der Bilder zugeht, kommt der Malerei näher. Konnte sich das Auge aus der Distanz noch bequem an prägnanten Straßenzügen, markanten Punkten in der urbanen Topografie orientieren, seinen jeweiligen Aufmerksamkeitsort während schweifender Sehreisen im Lichtermeer sicher bestimmen, so löst die Nahsicht den Illusionsraum in seine Bestandteile auf: das flächige Nebeneinander von jeweils einer Licht- und Dunkelheitsfarbe.
Mit der Bewegung auf das Bild zu geht eine Enttäuschung, ein Tausch einher: Aus geringer Entfernung stellt sich keineswegs ein Mehr an Sichtbarkeit ein, statt dessen zeigt sich anderes. Was aus einigem Abstand ein identifizierbares Gebäude, ein lesbares Detail zu sein schien, zerfällt nun in mal mehr mal weniger dichte Ballungen, Additionen von Rasterpunkten (eigentlich müßte man von Flächen, Quadraten sprechen), die als winzige Flecken oder komplexere Formationen wie zufällig oder willkürlich über die Bildfläche verteilt erscheinen. Was aus einigem Abstand wie amorphe Zufallsgebilde, Farblichtkleckse und unberechenbare Helligkeitsstreuungen aussah, erweist sich als einzeln entwickelte, technoide Form.
Kaum miteinander vereinbar sind die widersprüchlichen Ansichten, die das plane Nahbild und das tiefenräumliche, illusionierende Fernbild bieten. Das Bild zeigt sich dem beweglichen Sehen als kontingente Abfolge diskontinuierlicher Möglichkeitsbilder, die sich nicht einmal in der Vorstellung zum harmonischen Ganzen, zu übersichtlicher Einheit fügen wollen. Das eine einzige, stabile Wirklichkeitsbild entpuppt sich als wahre Illusion. In der reflektierten Auseinandersetzung – die Schaulust mit einschließt – erweist sich der Prozeß des Sehens eindrücklich als ein Produzieren von unsicherer Realität: Gesehenes und Sichtbares treten auseinander, Sehen und das Wissen um das Gesehene stehen in keinem zuverlässigen Kontinuitätszusammenhang; im Sehen dieser Bilder ent-täuscht sich der Wirklichkeitsaneignungs- und Wirklichkeitsvergewisserungssinn Auge. Gleichwohl, wer wieder zurücktritt, sich einer anderen Arbeit zuwendet sieht: Gleißend, glitzernd hingestreckt liegt die nächtliche Stadt tief unter dem ins Bild, in die Weite des Raums schauenden Betrachter ...
Auszug aus dem Text "Bilder zur Enttäuschung des Sehens" im Katalog
Birgit Jensen, Galerie Michael Cosar, Düsseldorf 2000