Grabenstr. 21
40878 Ratingen
Ausstrahlung - Stichprobe Steinzeit, Bild und Ton.
Landschaft ist gestalteter Raum und als solcher einem permanenten Wandel unterworfen. Gleichzeitig bezeichnet der Begriff einen geographischen Ort, der immer gleich bleibt. Dieser Dualität der Landschaft gehen Birgit Jensen und Jörg Steinmann in einem künstlerischen Projekt nach.
Der geographische Ort ihrer Nachforschungen ist Ratingen. Wie in einem Längsschnitt entlang eines Zeitstrahls tauchen sie tief in die Vergangenheit ein, bis hin zu den frühesten Zeugnissen menschlichen Tuns, bis in die Zeit des Neandertalers, der genau hier, in Ratingen seine Spuren hinterlassen hat. Denn wurden die menschlichen Überreste des uralten Vetters des heutigen Menschen in dem wenige Kilometer entfernten Tal bei Mettmann gefunden, so entdeckte man auf hiesigem Grund Werkzeuge und Feuerstellen, die den Aufenthalt des Neandertalers auf heutigem Ratinger Stadtgebiet belegen. Schon vor rund 150.000 Jahren existierte damit nachweislich menschliches Leben an diesem Ort. Die Landschaft und die überkommenen Artefakte sind unsere Verbindung in diese Vergangenheit. Ihre Authentizität erschafft ein Kontinuum über die Zeit hinweg und verleiht den Objekten jene Aura, um derentwillen sich die Institution Museum einst überhaupt erst gründete. Ausgangspunkt der Ausstellung sind dann auch jene prähistorischen Werkzeuge, wie die Faustkeile aus dem Mittelpaläolithikum, die in den 1980er Jahren von dem Hobby-Archäologen Reinhard Busch auf dem Gelände eines Kieswerks in Ratingen-Volkardey gefunden wurden.
Hier setzt der Audio-Künstler Jörg Steinmann zunächst ganz konkret an. Er widmet diesen frühen Zeugnissen menschlicher oder menschenähnlicher Schaffenskraft, die aus der Ratinger Erde geborgen wurden, die komplementäre Klangarbeit „Ratingen aging clicks". Der Klang von aufeinander schlagendem Stein bildet die Basis des Geräuschteppichs. In der Präsentation werden die "Sounds" über spezielle Kontaktlautsprecher direkt auf die Vitrinen der Exponate übertragen. Diese werden auf diese Weise zur Membran, die den Klang transportiert. Der prähistorische Gegenstand und das aus der Imagination entstandene Geräusch werden zu einer Einheit verbunden. Die Lautsprecher bleiben als technisches Element sichtbar. Sie erinnern an wissenschaftliche Versuchsanordnungen, setzen aber auch Assoziationen an geheimdienstliche Abhörtätigkeit frei, wie man sie aus Agentenfilmen kennt. Das „Leben der Anderen“ ist hier das Leben einer Spezies, die so weit vor unserem Erfahrungshorizont existierte, dass ein direkter Zugriff darauf kaum möglich erscheint. Selbst wissenschaftliche Versuche in diese Richtung bleiben recht spekulativ, wie etwa die sehr unterschiedlichen, jeweils aber auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden, Rekonstruktionen des Neandertalers belegen.
Jörg Steinmann nähert sich mit rein künstlerischen Mitteln der Steinzeit und richtet den Fokus auf die Klangsphäre. Flora und Fauna waren damals sicher üppiger ausgeprägt als heute. Aber was bedeutet das für den Klang? War es laut oder war es eher leise? Bedeutete Stille Deckung und Schutz, Lärm hingegen Gefahr und Risiko wie das Grollen des Donners oder das Brüllen eines Bären? Dokumentationen von Klang reichen nur sehr kurze Zeit zurück. Anders als der reiche Schatz an Bildwerken, die aus jeder Epoche mal in mehr, mal in weniger üppiger Zahl überkommen sind und von denen die ältesten bis in die hier betrachtete prähistorische Zeit zurückreichen, sind die ältesten authentischen Zeugnisse von Geräuschen und Klängen Grammophon-Aufnahmen aus dem 19. Jahrhundert. Um sich dennoch der prähistorischen Zeit zu nähern, reflektiert Steinmann über das Altern von Gegenwartsgeräuschen. In seinem Arrangement lässt er Naturgeräusche ohne jede zivilisatorische Einstreuungen auf Klangzeugnisse treffen, die einer industriellen Gesellschaft entspringen. Diese erschließt im Ratinger Umland z.B. mit der Angertalbahn eine Infrastruktur für die wirtschaftliche Nutzung der gewaltigen Kalkvorkommen. Die beiden akustischen Sphären begegnen und überlagern sich und es entsteht eine raumgreifende Klangarbeit, die Steinmann mit „Ratingen aging scenery“ betitelt. Eine akustische Utopie, in der Vorstellungen von Vorzeit und Gegenwart schillernd oszillieren und die korrespondiert mit den ausgestellten Gemälden von Birgit Jensen.
Die historische Entwicklung wird zum Anlass eines künstlerischen Prozesses, in dem das Abbildhafte in den Hintergrund tritt, um sich dem Veränderungspotenzial der Dinge zu nähern. Was auf die Arbeiten Steinmanns zutrifft, gilt in hohem Maße für die Bilder von Birgit Jensen. Auch Jensen geht von der Gegenwart aus. Über Jahre besuchte sie immer wieder verschiedene Orte in Ratingen, die Verbindungen bis in die prähistorische Zeit für sie herstellten. Dabei kristallisierte sich als besonders markantes Gebiet der heutige Blaue See heraus. Er wurde zum zentralen Ort ihrer künstlerischen Nachforschungen. Der See aus dem Urelement Wasser, mit seiner markanten Felswand, die das Innere des Erdreichs offenzulegen scheint, als „Naturbühne“ vermarktet und doch ein Ort von Menschenhand geschaffen. Für Jensen ist der See gerade durch die so offensichtliche Transformation der Landschaft ein Symbol für den Lauf der Zeiten, der sich in der Veränderung manifestiert. Sei es durch die Erwartungen und Bedürfnisse des Menschen, sei es durch die Kräfte der Natur. Sein heutiges Erscheinungsbild verdankt das Gebiet des Blauen Sees im Wesentlichen dem Kalkabbau. Denn bis 1932 war hier ein Steinbruch. Es entstand eine tiefe Senke. Und wie eine Antwort der Natur füllte diese sich mit Grundwasser, so dass der heutige See entstand. Auch die typische Felswand ist ein Relikt des Steinbruchs. Dieser dominierte in seiner industriellen Ausprägung die Umgebung mit Brennöfen und Eisenbahnschienen, die nach der Aufgabe des Abbaus ihrerseits wieder überwuchert und bewachsen wurden von Bäumen und Gehölz. Der Ort der Arbeit mutierte zu einer Landschaft der Erholung. Das auf diese Weise langsam geformte Erscheinungsbild änderte sich abermals, diesmal schlagartig, als am 9. Juni 2014 der Sturm „Ela“ in einer breiten Schneise durch das Gebiet zog und anstelle der zuvor mächtigen Bäume nichts als ein undurchdringliches Dickicht hinterließ.
Jensen hielt diesen Ort in Fotografien fest, suchte ihn zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten auf. Aus den entstandenen Fotografien destillierte sie ein Bild des Sees, das nicht mehr zeitgebunden ist. Die Chiffren der Vegetation lassen sich nicht auf Sommer oder Winter festlegen. Sie bezeichnen allein den Ort. Den Zustand dieses Ortes markieren Stimmungen, die durch das Spiel der Farben entstehen. In einem aufwendigen Verfahren versieht Birgit Jensen die immer gleiche Bildkomposition mit Farbwerten und -verläufen, die in ihrem Wechsel Veränderungen von Atmosphäre, von Tag- oder Nachtzeiten evozieren. Durch die emotionale Wirkung der Lichtstimmungen wird der Betrachter auf subjektive Weise unweigerlich eingebunden in die sich stetig verändernde Geschichte. In der Betonung der Farbwerte bei gleichzeitiger Zurücknahme einer zentralperspektivischen Komposition orientiert Jensen sich am japanischen Farbholzschnitt der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der mit Namen wie Katsushika Hokusai oder Utagawa Hiroshige verbunden ist. Wie in den Landschaften von Hokusai etwa, der in einem seiner bedeutendsten Zyklen in 36 Ansichten den Berg Fuji darstellte, variiert Jensen die Stimmung und damit die Bildaussage nicht nur durch die Farbigkeit, sondern auch durch die Lichtphänomene. Wolkenformationen, der Mond oder das Licht der aufgehenden Sonne werden im Wasserspiegel reflektiert. Die Art der Spiegelung ist dabei wesentlich für die Bildstimmung und entspringt einer rein künstlerischen Entscheidung. So verändert sich mit der hell beschienenen Wasserfläche auch die Tiefenwirkung der wie bei den japanischen Landschaften flächig hintereinander gestaffelten Bildebenen. Mal gewinnt die Wasserfläche an Raum, wenn ihr Zentrum sich weit in weißem Licht ausdehnt, mal rückt der Himmel ganz nah und erhält eine atmosphärische Qualität, wenn er sich blauschwarz über den spiegelnden See legt, während dieser durch die dunkle Farbigkeit optisch zurückweichend, in die Tiefe sinkt. Auch das Lineament erhält wechselnde Bedeutung im Spiel von Farbe und Licht. Die prägnante Achse der vertikalen Baumstämme in der Bildmitte ist mal natürlicher Bestandteil des Vordergrunds, teilt mit diesem denselben Farbraum. Oder das Geäst löst sich in einem Liniengefüge auf, das sich als Folie ornamental vor die Landschaftsschichten legt. Mit den Farbwerten wechseln Stimmungen und Empfindungen. Die Erscheinung des Ortes verändert sich und mit ihr seine Wahrnehmung durch den Betrachter. Zeit wird erfahrbar.
Trotz der Intensität der Lichtphänomene vor idyllischem Landschaftspanorama können die Bilder nicht ins Seichte abgleiten. Zu offensichtlich ist ihre Technik ablesbar, die dem prosaischen Siebdruck verpflichtet ist und deutlich die Raster der Reproduzierbarkeit vorweist. Auch hierin zeigt sich Jensen der Kunstgeschichte verpflichtet, rezipiert sie mit ihrer Technik doch ein deutliches Element der amerikanischen Popart und der westdeutschen Kunst der 1980er Jahre. Die Technik schafft Distanz zum Sujet, verankert es gleichzeitig in der Jetztzeit und lässt den Betrachter umso eindringlicher, die Veränderungen im Bildgeschehen wahrnehmen.
Alexandra König